Leserbrief von Christian Spiekers zum Martinszug in Anholt

Sonst durch meine berufliche Tätigkeit verhindert, habe ich dieses Jahr zum ersten Mal am Anholter Martinszug teilnehmen können und war darüber eigentlich ganz froh. Sehr freundlich und anerkennend hatte der Heimatverein uns Feuerwehrleute noch zum gemütlichen Beisammensein eingeladen, denn der Löschzug Anhalt hatte, wie immer, auch in diesem Jahr den Martinszug absichernd begleitet. Im abendlichen Gespräch mit einigen Mitgliedern wurde so manches noch diskutiert. So kam mir zu Ohren, daß einige Kindergartenkinder nicht mitlaufen durften, weil die Strecke zu weit sei. Außerdem sei damit zu rechnen das der „Weckmann“ oder „Stutenkerl“ alsbald umbenannt werden müsse,
denn die vorgenannten Bezeichnungen seinen ja nicht geschlechtsneutral und noch dazu müsse die Pfeife verschwinden, denn das Rauchen sei ja schließlich ungesund. Die in den „Zuckertüten“ zu findenden Weingummis müssen zukünftig vegan sein.

Und hier im Umkreis habe es wohl inzwischen Martinszüge gegeben, bei denen der heilige Martin ein Fahrrad habe benutzen müssen, anstelle des traditionellen Pferdes. Es bleibe abzuwarten, ob dies bei uns in Anholt auch noch zu befürchten stünde. Ebenso, ob der Martinszug, wie in der ein oder anderen Kommune schon geschehen, bald „Laternenfestzug“ oder „Lichterfestzug“ heißen müsse. Deshalb verspüre ich das dringende Bedürfnis, hierzu einmal ein paar Sätze loszuwerden: Es ist ja im Allgemeinen zu beobachten, daß sich hinter der „neuen Wachheit“ (englisch „Wokeness“) ein bestimmtes Clientel Menschen versammelt, das sich gerne zu offenbar moralisch – ethischer
Vorreiterschaft und scheinbarer Überlegenheit aufschwingen möchte. Am liebsten schreibt man dem Rest der Bevölkerung vor, was man zu denken hat, wie geschrieben und gesprochen werden muß, was gegessen werden darf, wie Kinder zu erziehen sind und so weiter. Im Speziellen und ganz konkret hier auf unseren Martinszug bezogen:
Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der man Kindern noch etwas zugetraut hat. Schon im Kindergarten gab es Ausflüge, bei denen auch gewandert wurde – und zwar weiter, als die am vergangenen Mittwoch zu laufenden zwei oder drei Kilometer.

Die Feierlichkeiten um den heiligen Martin haben, zumindest habe ich es so gelernt, ihren Ursprung in der Person des Martin von Tours. Die Geschichte dahinter ist ja hinlänglich bekannt und sollte gerade deswegen unverändert erhalten bleiben. Ein Reitersoldat, sogar Offizier, stand in seiner gesellschaftlichen Stellung weit über einem unbedeutenden Bettler. Und eben gerade dieser hoch zu Roß sitzende Kavallerieoffizier läßt sich sprichwörtlich dazu herab, seinen Mantel mit einem Bettler zu teilen. Dieser Akt der Barmherzigkeit ist noch viel bedeutungsvoller, wenn man die Zeit betrachtet, zu der sich diese Tat zugetragen haben soll. (Dies noch als Randnotiz: Jeder Text, jede Rede, Roman, Erzählung, Sage, Legende, Handlung und Personen müssen in den Kontext der jeweiligen Zeit gestellt werden. Dann und nur dann kann man Sachverhalte aus der heutigen Perspektive kritisch beäugen und beurteilen. Das gilt beispielsweise auch für Karl May und Winnetou, die Reden von Otto von Bismarck, Kaiser Wilhelm, Michel aus Lönneberga, Robin Hood und eine
nicht enden wollende Reihe…). Und gerade eine solche Geschichte, wie die um den heiligen Martin, die als leuchtendes Beispiel gelebter Barmherzigkeit und Menschlichkeit dienen darf, soll den Sinn entstellend verändert werden und die dahinter stehende Tradition der neu verstandenen politischen Korrektheit untergeordnet werden? Ebenso der Brauch um den Stutenkerl! Martin von Tours war, soviel ist wohl unstrittig, männlichen Geschlechts. Und der Stutenkerl, oder von mir aus auch Weckmann, ist ein Abbild eben dieses Helden der Vergangenheit, um ihn zu ehren und seiner zu gedenken. Die Pfeife war dabei ursprünglich ein Bischofsstab, denn der heilige Martin wurde einige Zeit später in dieses Amt geweiht.

Allerdings gerade in den nördlichen Regionen Deutschlands machten schelmische Protestanten aus dem katholischen Symbol des Bischofsstabs eine Pfeife – so die heutige Interpretation. Und auch hier muß man diesen Brauch wieder in den zeitlichen Kontext stellen und kann dann sogar eine wenig darüber schmunzeln, wie ich finde. Die evangelische Kirche kennt im katholischen Sinne keine Heiligen, wohl aber vorbildhafte Menschen. Deshalb wollte man sich den Festlichkeiten rund um St. Martin nicht erwehren, konnte jedoch nicht umhin, den Stutenkerl einbißchen zu verballhornen. Ein Teil deutscher und regionaler Geschichte und Tradition! Hier geht es nicht ums Rauchen!
Übrigens: In einigen Regionen gibt es von St. Martin an bis zum Nikolaustag Stutenkerle, denn auch der heilige Nikolaus war Bischof. All das kann man auch Kindergartenkindern und Grundschülern in altersgerechter Sprache näher bringen. Das kostet Mühe, aber fördert kritisches Denken und allgemeinbildende, geschichtliche Kenntnisse! „Laternenfest“, „Lichterzug“? Bitte nicht! Ich bin selbst evangelischer Konfession und habe mit dem eigentlich katholischen Brauch überhaupt kein Problem. Im Gegenteil! Seit meiner Kindheit gehört dieser katholische Brauch um den heiligen Martin in die Jahreszeit und macht auch den heutigen Kindern sichtlich Spaß, wie ich jedes Jahr beim Vehlinger Martinszug sehen durfte. Auch moslemische Mitbürger habe ich hier schon lächelnd mitlaufen sehen. Und warum auch nicht! Toleranz gilt immer für alle Seiten. Es ist völlig unnötig, Diskriminierung eliminieren zu wollen, wenn es gar keine gibt! Wem es egal ist, oder wer mit der (religiösen) Geschichte dahinter ein Problem hat, der soll nicht mitlaufen. Ganz einfach! Ganz ähnlich verhält es sich meiner Meinung nach mit dem Inhalt der Zuckertüten: Zucker ist sicherlich, das wissen wir heute, nicht das Gesündeste. Aber in Maßen genossen eben auch kein größeres Problem. Was die „Gummibärchen“ angeht: Erklärt man den Kindern, daß die verarbeitete Gelantine aus tierischem Bindegeweben – sprich Tierabfällen – produziert wird, dann kann jeder Charakter für sich selbst entscheiden, ob er diese Süßigkeit essen möchte, oder eben nicht. Auch ich habe das als Kind schon gewußt und selbst entschieden.
Mein Fazit und Bitten: Ich habe nichts, absolut überhaupt nichts gegen Fortschritt und gesellschaftliche Veränderungen. Aber wenn man in der Geschichte zurückblickt, dann haben sich durchgreifende Veränderungen immer dann ergeben, wenn die Mehrheit (des Volkes) diese gewollt hat und mittrug. Das gilt bspw. für den Glaubenswechsel im römischen Reich, die französische Revolution und auch die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands. Sollte die Mehrheit in unserer Stadt wirklich hinter dieser, meiner Meinung nach, sinnenstellenden Änderungen unserer Traditionen und Bräuche stehen, dann ist das so. Aber die Gespräche, die ich in der letzten Zeit geführt habe, vermitteln mir einen anderen Eindruck.

Hier versucht eine relativ kleine Zahl von handelnden Personen, die zumeist dem links (intellektuellen) Lager zugerechnet werden dürfen, anderen ihr Weltbild und Werte aufzuzwingen. Dies läßt sich nicht nur hier, ganz konkret in Isselburg, beobachten, sondern auch im ganzen Land. Man braucht nur die aktuellen Berichte in den Medien zu verfolgen. Dagegen opponiere ich ganz entschieden, habe aber keine Kinder mehr in Isselburger Schulen und Kindergärten. Deshalb bleibt mir nur die schriftliche Stellungnahme.
Im Alltag jedoch lasse ich mir nicht vorschreiben, wie ich und was ich zu denken habe, wie ich schreiben und sprechen soll, was moralisch ist und was nicht. An dieser Stelle juckt es mich, Götz von Berlichingen zu zitieren.
Ich kann nur dazu aufrufen, solche Dinge nicht kopfschüttelnd, aber stillschweigend zu akzeptieren. Für meinen Teil behalte ich mir vor, daß wenn die zuvor erwähnten Bestrebungen durchgesetzt werden sollten, mein (ehrenamtliches) Engagement, den Anholter Martinszug betreffend, einzustellen. In diesem Fall werde ich dieses Jahr zum ersten und letzten Male dabei gewesen sein.

P.S.: Dieser Text ist nach der alten Rechtschreibung vor 1996 verfaßt. Ganz bewußt!